Vera Rosner
“Schöne Körper und
ein paar Nackerte”
Vera Rosner ist DanceAbility-Trainerin, Choreografin, Tänzerin und Qualitätsmanagerin und lebt in Wien. Sie engagiert sich als Mitbegründerin und Vorstand von MAD Coproductions und DanceAbility Wien für die Sichtbarkeit der professionellen mixed-ability Tanz- und Performanceszene in Österreich und unterrichtet national und international unterschiedliche Workshop-Formate. Auf der Bühne war sie zuletzt in den Arbeiten von Jerôme Bel und Doris Uhlich zu sehen. Im Interview spricht Vera darüber, inwiefern Tanz auf eine lustvolle Art und Weise Inklusion und mehr als nur schöne Körper und ein paar Nackerte zeigen kann.
Interview: Sabrina Huth
Illustration: Xueh Magrini Troll
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Wie bist du zum Tanz gekommen und was waren wichtige Momente in deiner Tanzbiografie?
Alito Alessi hat mich in Wien am Rathausplatz angesprochen: “Would you like to dance with me?” Und ich hab gesagt: "Schleich dich!" Ich war peinlich berührt, weil ich gedacht hab, er macht einen Scherz mit mir. Alito hat meinen Partner Georg dann seine Visitenkarte zugesteckt und ist wieder gegangen. Ein Jahr später hab ich mir doch einen Workshop beim Impulstanz Festival in Wien angeschaut. Ich hab gedacht da werden lauter Rollstuhlfahrer aufgefädelt. Ich hatte ja keine Ahnung. Aber ich war neugierig. Für mich war spannend, dass man sich ohne Worte verständigen kann, dass die Körper wirklich sprechen. Mein Körper hat vorher nicht gesprochen, weil ich versucht hab möglichst nicht da zu sein. Ich hab versucht alles mit dem Kopf zu lösen. Nach dem Workshop war ich so geflasht, dass ich alles gemacht habe. Ich bin in jede Tanzklasse und hab mich bei Impulstanz reingedrängt, wo es nur irgendwie ging. Ich hab überall gesagt: “Ich will da mitmachen. Geht das? Kann ich das?”
Und ging das?
Alle waren nicht erfreut! Im Tanzquartier Wien haben sie mich vor fünfzehn Jahren beispielsweise noch aus den Tanzklassen rausgehaut. Das war schon sehr belastend für mich; immer weggeschickt zu werden. Manchmal hat man auch keine Kraft mehr zum Kämpfen. Die Lehrer aus dem anglikanischen Raum waren damals schon viel weiter mit der Inklusion. Die haben gesagt: “Dann probierst du das halt.”
Mittlerweile arbeitest du schon seit vielen Jahren als Tänzerin, Choreografin und DanceAbility Lehrerin. Wie bist du nach den ersten Berührungspunkten mit Tanz dazu gekommen professionell in diesem Bereich zu arbeiten?
Später in meiner Karriere hab ich angefangen DanceAbility und Mixed Ability Workshops zu geben - auch beim ImpulsTanz Festival - und kleine Showings und Straßeninterventionen zu machen. Zum Beispiel haben wir die Invalidenstraße in Wien betanzt um sie umzubenennen. Im Theater sind die Leute ja schon auf ein Thema eingestimmt, aber auf der Straße sehen das natürlich alle; vielleicht auch diejenigen, die das nicht sehen wollen. Das hat auch einen Aspekt, der nicht unwichtig ist. Deswegen machen wir immer wieder Performances im öffentlichen Raum. Wir waren auch in Berlin und Köln auf der Pride. Später ist der Bühnentanz für mich dazu gekommen. Zuerst hab ich Stücke gemacht, bei denen ich dabei war und dann bin ich immer wieder von Choreografinnen und Choreografen, wie Doris Uhlich und Jerome Bel, eingeladen worden. Ich muss sagen: Es reizt mich sehr auf der Bühne zu sein. Ich mag diesen Thrill und Kick sehr.
Letztes Jahr hat MAD Coproductions den Outstanding Artist Award 2020 erhalten. Eines eurer Projekte nennt sich MellowYellow, bei dem ihr mit künstlerischen Methoden Diversität, Inklusion und künstlerische Offenheit an Österreichs Schulen etabliert. Kannst du das Projekt ein wenig näher beschreiben?
In dem Projekt arbeiten etablierte Künstler und Künstlerinnen in Mixed Ability Teams an Regelschulen und Universitäten. Die Teams kommen sozusagen von außen an die Institutionen und verbringen mindestens eineinhalb Tage mit den Kindern und Jugendlichen - das nennen wir Aktionstage und ist die kleinste Einheit. Manchmal gibt es auch Aktionswochen. Jeder Aktionstag oder jede Aktionswoche hat ein bestimmtes Setting, das für alle Künstlerteams gleich ist. Zuerst gibt es eine kurze Informance - eine Kombination aus Performance und Information - damit sich die Schüler für die Teams interessieren. Anschließend gibt es ein Warm-up, einen Bewegungsteil und ein gemeinsames Mittagessen. Das muss die Schule ermöglichen. Diese eineinhalb Stunden gemeinsame Mittagspause ist sehr wichtig, da sich dabei viele Nebengespräche ergeben. Am Nachmittag arbeiten wir dann gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen in einem Workshop Setting. Inhaltlich unterscheidet sich dies, je nachdem welches Team dort ist. Bei den blinden Künstlerinnen ist es zum Beispiel etwas, wo man die Augen geschlossen hat und die Wahrnehmung schult. Bei gehörlosen Künstlerinnen wird eher mit Gebärdensprache und Tanz gearbeitet und bei mir machen wir zum Beispiel Rolli Tricks. Wir bringen ein paar Rollstühle mit. Aber immer weniger als die Anzahl der Schüler, damit sie lernen zu kooperieren. Nach vier bis sechs Wochen gibt es ein Resonanztreffen, bei denen wir ihnen Fotos zeigen - falls wir diese machen durften - und fragen, ob sie nach etwas wissen möchten. Manchmal haben sie auch einen Tanz einstudiert. Der Diskurs ist sehr wichtig, da es quasi keine Lehrer mit Behinderung gibt. In Österreich dürfen erst seit drei oder vier Jahren Menschen mit Behinderung Lehramt studieren. Zuvor war das verboten. Eigentlich sollten Institutionen in Österreich nach dem Behinderteneinstellungsgesetz pro 25 Mitarbeitern eine Person mit sogenannter Behinderung einstellen. Diejenigen, die das nicht machen, zahlen eine lächerlich kleine Entschädigung. Daher möchten wir für unser Projekt etwas von dem Geld, welches eigentlich für Lehrer mit Behinderung sein sollte, die es aber nicht gibt. Neuerdings haben wir den Alpenverein als Partner dazugewonnen. Der macht das Projekt mit der gleichen Struktur aber nicht mit Tanz, sondern mit inklusiven Klettern.
Wie kann ich mir so eine Informance vorstellen?
Wir kommen für gewöhnlich in einen Turnsaal, in dem die Schulklasse in einem Halbkreis sitzt. Mit meinem Kollegen Frans Poelstra läuft das dann zum Beispiel so ab, dass er mich schnappt und mit mir mit dem Rollstuhl durch den Raum fährt wie ein Krankenpfleger. Er wird immer schneller und irgendwann kippt er um und ich roll aus dem Rollstuhl raus. Er setzt sich ganz lässig in den Rollstuhl und beginnt zu reden. Die Schüler sind schockiert und passen wirklich auf. Dann reden wir miteinander darüber, wie wir zum Tanz gekommen sind und tanzen dabei. Die Themen variieren je nachdem wie groß und wie alt die Kinder sind. An der Uni sind wieder andere Künstler Teams, wie zum Beispiel die Choreografin Doris Uhlich, die dann eher mit den Studenten philosophieren.
Was braucht es damit solche Projekte und die Zusammenarbeit von Künstler*innen mit und ohne Behinderung funktionieren können?
Erstmal geht es um die Bezahlung. Im Projekt MellowYellow arbeiten ausschließlich Künstler*innen, die schon eine Karriere haben. Wir glauben, dass diese einen anderen Aspekt in die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen einbringen können; allein schon durch ihr Künstler-Sein. Ihr Stundenlohn entspricht dem der Lehrer an der Schule. Die Bezahlung geschieht somit auf Augenhöhe; alle verdienen gleich viel. Das ist ein wichtiger Hygienefaktor. Viele Künstler und auch Menschen mit Behinderung leben in prekären Einkommensverhältnissen oder bekommen ihr Geld vom Staat. Daher können sie oft nicht so viel dazuverdienen, da sie sonst Leistungen gestrichen bekommen. Das ist eine Falle. Genauso wie zu sagen: “Die Künstler tun das ja eh gerne.” Man muss wirklich anständig bezahlt werden um nicht in die Armutsfalle zu kippen. Das wäre mal der finanzielle Teil.
Und was ist auf künstlerischer und/oder zwischenmenschlicher Ebene wichtig?
Der künstlerische Teil ist, dass man miteinander Zeit verbringen muss um sich kennenzulernen; unsere Körper müssen sich kennenlernen. Im ersten Jahr haben sie uns oft in Pilotprojekte, sogenannte Brennpunktschulen geschickt, wo es wirklich schwierig ist. Um das auszuhalten und auch mit herausfordernden Situationen umgehen zu können musst du als Team ein gewisses Standing haben und eine gewisse Energie mitbringen. Deswegen haben wir auch Probleme Nachwuchs zu finden. Es gibt einige junge Künstler und Künstlerinnen mit Behinderung, die talentiert wären zum Tanzen, die haben aber oft nicht die Kraft oder die Lust sich mit den Kindern auseinanderzusetzen; auch physisch nicht. Es geht ja um den Körper. Der wird dann einfach thematisiert. Das ist nicht so easy.
Du hast gerade erwähnt, dass die Arbeit in den Schulprojekten oft nicht einfach ist. Welchen Herausforderungen begegnet ihr?
Mit den unterschiedlichen Energien und kulturellen Unterschieden umzugehen ist nicht einfach. Gerade an Wiener Schulen gibt es oft sehr viele Subwelten. Das finde ich schade, da die Kinder von Anfang an mehr durchgemixt gehören. Oft erlebe ich, dass speziell die Mädchen wenig Wertschätzung kriegen und sich selber nicht so viel wert sind. Die Reaktion darauf ist oft wiederum Aggression. Ich spüre sehr stark, dass dort irrsinnige Spannungsfelder sind. Dabei ist die Regelschule oftmals der einzige Moment, an welchem diese Menschen nah beieinander sind. Sie ist ein ur-wichtiger Ort der Auseinandersetzung. Nicht nur für das Lesen, Schreiben, Rechnen und Lernen, sondern um das gesellschaftliche Zusammenleben zu lernen. Deshalb sollten dort alle beisammen sein und nicht nur bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Es wäre so wichtig diese Friktionen zu erleben, aber auch dass man miteinander streiten und diskutieren kann. Ich sehe diese Arbeit sehr politisch.
Wie reagieren denn die Schüler*innen auf euch?
Wir bitten die Lehrer und Lehrerinnen den Kindern nicht im vorhinein zu sagen, dass jemand kommt, der eine Behinderung hat, sondern einfach: “Es gibt einen Tag mit Tanz.” Wir machen dass, damit sie nicht gebrieft sind und denken, sie müssen sich politisch korrekt verhalten und dürfen nichts fragen. Wenn die Schüler jünger sind, fragen sie oft sehr direkt. Wir haben zum Beispiel eine Frau im Team, die nur ein Bein hat. Da haben sie nachher gefragt: “Hast du wirklich nur ein Bein?” Das war für uns sehr interessant. Die Kinder leben ja oft in einer Welt der Computerspiel und Filme, in denen vieles nicht echt ist. Die älteren Kinder sind schon ein bisschen politisch korrekter und fragen zuerst: “Wie lange habt ihr geprobt? Wo habt ihr euch kennengelernt?” - eher so brave Fragen. Wenn ich zum Beispiel in den Rollstuhl kraxel, dann kann ich nicht richtig einsteigen und muss meinen Hintern aufstellen. Die jüngeren Kinder trauen sich in diesem Moment immer zu lachen. Die Älteren trauen sich nicht. Sie sind betreten. In der Mittagspause sind die Schüler dann schon aufgewärmter und fragen: “Wie gehst du denn aufs Klo? Kannst du schwimmen?”
Und wie sind die Reaktionen der Lehrer*innen und Eltern?
Die Lehrer und die Eltern haben eine ziemliche Angst, wenn auf einmal jemand mit Behinderung in die Schule kommt. Die Lehrer haben Angst, dass sie einen Kollegen mit Behinderung bekommen, den sie vielleicht nicht mehr loskriegen, wenn es nicht funktioniert. Die Eltern glauben, dass ihre Kinder vielleicht weniger lernen oder sicherheitsmäßig gefährdet sind. Man will ja schon keine behinderten Kinder in der Regelschule haben und versucht alles diese wieder wegzukriegen. Dahingehend ist das MellowYellow Projekt natürlich cool. Wir kommen diesen Tag und gehen auch wieder. Wir setzen einen Samen. Wir gehen nicht ohne Spuren. Besonders die Schüler, mit denen wir Aktionswochen machen und am Ende eine Aufführung erarbeiten, merken sich das.
Ich finde es interessant zu hören, wie die Offenheit der Schüler*innen mit dem Erwachsenwerden verloren gehen kann. Umso wichtiger, dass es Projekte wie MellowYellow gibt, in denen Kinder und Jugendliche positiv besetzte Erfahrungen in der Begegnung mit Künstler*innen mit Behinderung machen können. Im besten Fall, ein Schritt um Vorurteile abzubauen oder gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Manche Sachen sind auch stark von Symbolik aufgeladen. Wir haben zum Beispiel eine blinde Bekannte, die in Boston und Philadelphia studiert hat. Sie fährt mit der Straßenbahn und ein Besoffener steht neben ihr und sagt: "Wenn ich blind wäre, würde ich mich gleich erschießen." Eine andere Freundin hat mir erzählt, dass sie in die Disko gegangen ist und sich mit jemanden an der Bar unterhalten hat. Dieser sagt: “Ich geh nicht in den Club, damit ich nachher mit einer behinderten Frau heimgeh." An diesen Beispielen merkst du, welchen Stellenwert der behinderte Körper in der Hierarchie der Körper in unserer Gesellschaft hat. Jugend, Schönheit und Unversehrtheit steht an oberster Stelle. Man hat immer die Schönheit - welcher Norm auch immer entsprechend - und Jugend bewundert. Eine Frau mit Behinderung ist ganz unten in der Liste von dem, was man haben will. Frauen mit Behinderung haben ein vier bis fünfmal Mal höheres Risiko, Gewalt zu erleben als Frauen ohne Behinderung - und diese haben schon ein zu hohes Risiko. Sie sind abhängig sind und können sich oft nicht ausdrücken; wenn sie zum Beispiel Lernschwierigkeiten haben wird ihnen oft nicht geglaubt, dass sie Gewalt erlebt haben. Hierbei ist es wichtig die Gewichtung ein wenig zu verschieben.
Kannst du ein wenig näher ausführen, was du damit meinst?
Die Wertschätzung! Welcher Körper wieviel wert ist in der Gesellschaft. Demnächst wird die Diskussion losgehen, wer die Pandemie bezahlen wird. Dabei werden wieder diejenigen gewählt, die keine Lobby haben.
Wenn ich dich erzählen höre, dann spüre ich ein großes soziales und politisches Engagement. Neben deiner künstlerischen Arbeit leistest du auch viel Community Arbeit in Wien und darüber hinaus. Was braucht es denn um aktivistische und künstlerische Arbeit nachhaltig zu machen?
Ich war immer schon ein politisch interessierter Mensch; aber nie parteipolitisch. Ich war in meiner Jugend lange Aktivistin bei Amnesty International bevor ich begonnen habe zu tanzen. Ich seh auch, wie wichtig es ist, wer einlädt zu einem Workshop oder einem Stück. Wenn jetzt irgendeine Tanzpädagogin oder Balletttänzerin mit dem perfekten Körper zu jemanden mit einer Behinderung kommt, der sich in seinem Körper nicht so zuhause fühlt, und sagt: “Geh mach einmal!” Dann ist das schwieriger und ich hätte mich auch nicht getraut. Wenn aber zum Beispiel jemand wie Doris Uhlich kommt, die nicht diesen Tanz-Tanzkörper hat, und sagt: “Mach ma mal, tun ma mal, schaun ma mal!”, dann macht das einen Unterschied. Das ist ein anderer Zugang für jemanden, der sehr gehemmt ist. Auf diese Weise aktivistisch politisch zu sein interessiert mich. Tanz kann man auf eine sehr fröhliche Art Inklusion einfach zeigen. Wenn du in einer großen Gruppe tanzt und alle haben Spass, dann siehst du es einfach und brauchst es nicht zu erklären. Ich glaube, diese Bilder und das politische Anliegen dahinter sind stärker, wenn man sie mit Spaß und Freude kombiniert. Wir tanzen manchmal auch bei Demonstrationen für persönliche Assistenz. Das entwertet das Anliegen nicht, sondern zeigt, dass man miteinander Freude haben kann. Politische Arbeit ist oft so frustrierend, dass diese Freude verloren geht. Wir müssen aber auch die Freude haben, da wir sonst nicht weiter tun können. Auch ist mir die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ein großes Anliegen, weil sich bei denen noch so viel ändern kann. Die sehen irgendwas und denken sich dann zum Beispiel: “Ich hab eine Behinderung, aber ich könnte ja auch Lehrerin werden zum Beispiel.”
Dabei werdet ihr zu Role Models oder Vorbildern …
Ich glaub schon ja. und ich glaub auch für die Lehrer. Sie werden sicher ihre Meinung nicht sofort komplett ändern, aber sie haben es mal gesehen. Mit einigen haben wir uns richtig gut angefreundet und einige sind froh, wenn wir wieder weg sind.
Hast du in den letzten Jahrzehnten eine Veränderung hin zu mehr Inklusion, Zugänglichkeit und Sichtbarkeit in der Tanzszene gesehen? Insbesondere auch in Hinblick auf Ausbildungsmöglichkeiten?
Unsere Idee ist, dass Menschen mit Behinderung eine gescheite Ausbildung kriegen. Ich hab keine bekommen, sondern bin zu jedem Lehrer gegangen, der mich interessiert hat und hab versucht irgendwas zu kriegen. Wenn es ein Bewegungsmaterial war, das mein Körper nicht kann, wollte ich zumindestens zusehen und schauen, was ich für mich übersetzen oder auch integrieren kann. Das war ein schwieriger Weg. Cornelia Scheuer und Elisabeth Löffler haben schon vor vielen Jahren in den 1990er Jahren mit der Tanzgruppe Bilderwerfer und mit Daniel Aschwanden begonnen. Die haben diesen Weg auch hinter sich; dass man sich so viel erkämpfen muss. Wir möchten nicht, dass es eine Ausbildung für Menschen mit Behinderung gibt, sondern dass die “normalen” Universitäten und Ausbildungsinstitutionen sich für Menschen mit Behinderung öffnen. Wir möchten denjenigen, die sich eignen, eine Chance geben, dass sie in diesen Räumen lernen können. Ich halte nichts davon wieder eine Blase zu schaffen. Im Werkstätten- und Kulturhaus Wien (WUK) diskutieren wir stark darüber. Es ist wichtig Schutzräume zu haben. Aber man müsste diese Schutzräume nutzen um sich aufzuladen und dann muss man raus in die Welt gehen. Ich glaube, dass Schutzräume alleine auch eine Falle sein können, wenn man sich zu lange drin aufhält. Ich persönlich bin sehr lange sehr beschützt worden und hab lieber die Auseinandersetzung. Ich möchte nicht im eigenen Saft braten. Ich möchte lieber raus.
Welche Erfahrungen hast du mit der Aussonderung vom gesellschaftlichen Leben gemacht?
Immer wenn es um Absonderung geht bin ich hellhörig. Ich bin schon sehr viel in meinem Leben abgesondert worden. Meine beste Freundin ist beispielsweise mit fünf Jahren in ein Heim am anderen Ende von Österreich gekommen. Das war die einzige Schule. Sowas darf es einfach nicht mehr geben. Die Kinder müssen dort in die Schule gehen, wo sie wohnen. Wenn du die Kinder frühs abholst und irgendwohin karrst und sie am Abend erst wieder zurückkommen, sind die Eltern auf der einen Seite entlastet. Auf der anderen Seite spielen die Nachbar- und Geschwisterkinder miteinander, aber diese Kinder haben dann niemand. Sie sind doppelt ausgegrenzt. Da geht es um mehr als nur die Schule. Es zieht immer weitere Kreise. Die Gesellschaft gibt viel Geld für Absonderung aus. Die Sonderschulen und Einrichtungen, in denen man jemanden wegkriegt, werden ausgebaut. Die Sonderschulen sind wirklich super ausgestattet: Sie sind barrierefrei, es gibt Ruheräume, es gibt Therapieräume, etc. Das ist auch eine Falle für die Eltern, dass man sagt: “Die Kinder haben schon alles. Du brauchst sie nicht extra am Nachmittag zur Therapie bringen.” Oft sind es Alleinerziehende, die arbeiten müssen, und dann kommt die Schule und nimmt ihnen das ab. Das muss man natürlich auch verstehen. Aber für die Kinder ist das schwierig. Und es ist ein gesellschaftliches Problem. Wenn zum Beispiel ein Kind in der Regelschule gemobbt wird und dann in die Sonderschule kommt, ist das eine ganz schlechte Geschichte. Was haben die Kinder ohne Behinderung davon gelernt? Wenn ich den- oder diejenige mobbe, dann verschwindet er oder sie. Was nehmen diese Kinder für ihr Leben mit? Das ist sehr bedenklich.
Wir haben ja schon darüber gesprochen, wie wichtig es ist, dass Tänzer*innen mit Behinderung Zugang zu professionellen Tanzausbildungen haben und dadurch eine andere Möglichkeit haben, sich im professionellen Tanzbereich beruflich zu verorten. Was braucht es deiner Meinung nach damit das noch mehr passieren kann?
Ich glaub, dass die Arbeit von Doris Uhlich viel bewirkt, die dieses Thema aufgegriffen und thematisiert hat. Adil Embaby, der in Doris Stück “Every Body Electric” performt, ist zum Beispiel die erste Person mit Behinderung, die an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien Tanzpädagogik studieren kann. Der hat es geschafft. Daran haben Leute wie Doris Uhlich einen großen Anteil. Wir haben 2015 im Tanzquartier Wien einen Kongress unter dem Titel "Swaying" veranstaltet. Damals haben Jurij Konjar und Michael Turinsky ein Solo gezeigt. Das war nicht vorgesehen in der Welt des Tanzquartier damals. Dass diese Dinge passieren und dass Leute wie Doris Uhlich mit uns um die Welt reisen zu Festivals, die nicht speziell für Menschen mit Behinderung sind - nach Sao Paulo, Tel Aviv und in fast alle deutschen großen Städte - ist sehr wichtig. “Every Body Electric” ist kein Mixed Abled Stück. Es gibt keine nicht-behinderten Performer auf der Bühne. Wir haben das mit Doris so abgesprochen. Sie hat uns gefragt: “Wollt ihr auch Tänzerinnen ohne Behinderung dabei haben?” Wir haben gefunden, dass es so stark ist, wenn wir alles selber machen: unsere Rollstühle selber wieder zusammen bauen und uns gegenseitig helfen. Das ist dann schon jenseits von Mixed Ability (lacht). Meiner Meinung hat das total viel bewirkt, weil die Häuser und Spielstätten, die normalerweise keine Leute mit Behinderung dort haben, auf einmal mit sechs Rollstühlen backstage konfrontiert sind; und die müssen alle aufs Klo und müssen sich umziehen. Das sollte wieder ein Dosenöffner für später sein. In Berlin haben sie mich mal angerufen und gefragt ob ich jemanden kenne der talentiert ist und dort studieren möchte, weil die Uni jetzt auch Menschen mit Behinderung einladen möchte sich zu bewerben. Manchmal wurden wir auch schon als externe Dozentinnen eingeladen, weil es halt niemand gibt. Aber es ist sicherlich noch ein langer Weg. Wenn die Leute ins Theater gehen und eine Performance anschauen, wollen sie wenns geht schöne Körper und ein paar Nackerte sehen (lacht).
Davon gibt es in dem Stück “Habitat” von Doris Uhlich, in dem du auch performt hast, ja mehr als genug ...
Im zeitgenössischen Tanz ist viel Nacktes. Aber fast immer die schönen Körper. Es wird zwar der Körper oft thematisiert, aber es passiert selten, dass so ein Körper wie meiner auf der Bühne sichtbar ist. Ich hab einen Körper, den will niemand haben. Das ist eine Horrorvision für viele in so einem Körper zu stecken. Es ist ja auch ein Unterschied, ob ich einen Körper auf der Bühne zeige, der zwei Kilo mehr hat oder einen Körper wie meinen. Das wird als Zumutung wahrgenommen.
Was gibt dir diesen Eindruck?
In Deutschland - ich glaub es war in Darmstadt - hat eine Frau im Publikumsgespräch gesagt: "Das ist ja eine Zumutung, aber ich hab so viel gelernt" Es war interessant, dass sie ausgesprochen hat, was viele Leute denken.
Wie gehst du mit solchen Situationen um?
Früher hätte ich mir nie vorstellen können anders auf einer Bühne zu sein als schön hergerichtet zu sitzen und über etwas zu reden. In “Every Body Electric” hau ich mittlerweile ganz schon mein Fleisch auf die Bühne hin. Die Reaktionen der Leute flashen mich manchmal total, aber ich hab mittlerweile eine gewisse Altersdistanz. Ich kenn das vom Impulstanz Festival. Wenn man im Arsenal im Cafe vor den Studios sitzt, kommen oft oder meistens diese jungen, schönen Frauen aus den Ballettklassen raus. Ich sitz dann dort im Rollstuhl mit meinen sprießel-dünnen, verdrehten Haxen. Wenn sie mich anschauen - sie lächeln zwar so gezwungen - seh ich: Ich bin die Horrorversion von ihrem Leben. Sie denken sich: “Wenn mir das passiert!” Du siehst richtig, wie sich die Räder in den Köpfen drehen und die große Angst, dass einem das selber auch passieren könnte. Unbewusst wissen wir ja um unsere Zerbrechlichkeit, auch wenn wir noch so powermäßig tun. Wir wissen, dass wir uns das Leben nicht erstrampeln und erradeln können. Da kannst du noch so viel Bio essen, wir sind ganz temporär able-bodied - wie es so schön heißt.
Welchen Einfluss hat das Tanzen auf die Beziehung zu deinem eigenen Körper?
Vor dem Tanzen hab ich immer nur Therapie erlebt und was an meinem Körper nicht funktioniert und nicht passt. Mein Körper war so negativ; auch für mich selbst. Ich hab mich sehr geschämt für meinen Körper. Meine Mutter hat auch immer geschaut, dass ich lange Kleider trage. Damit man nicht sieht, dass ich so dünne Beine hab. Sie hat mich irgendwohin hübsch hingesetzt und in ein Kleid drapiert, sodass man nichts sieht und sich dann gefreut. Das war ein sehr langer Weg; sich mit dem eigenen Körper zu arrangieren. Zuerst einmal, dass man ihn überhaupt ertragen kann. Jetzt bin ich froh, dass ich ihn hab und dass er mir erlaubt zu leben und mich irgendwie zu bewegen und zu tanzen. Ich hoffe, dass er noch eine Weile hält. Das Ablaufdatum rückt näher. Das Tanzen ist für mich zu einer wichtigen Ausdrucksform geworden. Ich bin nicht so ein wissenschaftlicher Typ; ich bin in dem Geschriebenen nicht so zuhause. Aber mit dem Körper sprechen ist schon cool. Als ich das erste Mal nach dem Pandemie Schock wieder getanzt habe, war ich wieder die Person, die aktiv etwas tut. Das gibt sehr viel Power. Das gebe ich sehr gerne weiter an Leute, die sich vielleicht auch nicht so wohl fühlen in ihren Körpern; dass man sich freuen kann am Körper so wie er ist, ohne dass man irgendwas ständig korrigieren muss. In meinem Leben hat sich viel durch den Tanz geändert.
Diversität im Tanz bedeutet für mich ...
Dass alle dabei sind, die dabei sein möchten.
Allyship bedeutet für mich ...
Dass mensch nicht alleine ist.
Zusammenarbeit bedeutet für mich ...
Austausch, Befruchtung, Friktion, gemeinsam Probleme überwinden, Lust, Erschöpfung, Alles.
Barrierefreiheit bedeutet für mich ...
Dass jemand, der bei etwas dabei sein möchte, auch hinkommen kann, dass Menschen mit Sinnesbehinderungen es wahrnehmen können und dass man etwas trinken kann, da man weiß es gibt ein barrierefreies WC. Und wenn Barrierefreiheit noch nicht gegeben ist, freu ich mich über gute Improvisation in der Zwischenzeit.
Behinderung bedeutet für mich ...
Ein Teil meines Lebens. Ich sehe meinen Körper schon als einen Körper mit Behinderung. Aber oft erfahre ich viele Behinderungen durch mangelnde Barrierefreiheit oder durch mangelnden Willen von anderen Menschen. Dass man im Sinne des sozialen Modells von Behinderung eher behindert wird, als behindert ist. Einen Teil meiner Lebensgeschichte auch. Ich wäre nicht ich, wenn ich einen anderen Körper hätte. Dann hätte ich eine andere Geschichte.
Nicht-Behinderung bedeutet für mich …
Auch ein Privileg. Im besten Fall eine Verantwortung. Auch ein Glück. Das kommt darauf an, wie man Nicht-Behinderung sieht - aus dem medizinischen oder sozialen Modell. Wenn ich irgendwo hinkomme und werde nicht behindert, sehe ich das als sehr erfreulich, lustvoll und ermöglicht mir die Teilhabe. Wenn eine Behinderung in Form von baulichen Barrieren vorliegt und ich schauen muss, wie komme ich in das Gebäude überhaupt rein, dreimal rundherum fahren und zwei Portiere heraus läuten muss, die dann mit einer Rampe kommen und sagen: “Wir helfen eh”, dann komm ich im Tanzstudio an und bin erschöpft. Und die anderen haben sich schon einen Tee genommen, sich aufgewärmt und sind guter Dinge. Das sehe ich auch unter Behinderung und Nicht-Behinderung. Dass mensch ungehindert rein darf!