Katharina Senk
“Unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Körperlichkeiten”
Katharina Senk ist österreichische Tanzschaffende und lebt in Wien. Sie performte u.a. in den Arbeiten von Doris Uhlich, Florentina Holzinger und Georg Blaschke. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Tanja Erhart widmet sie sich dem Erforschen von lustvollen und intersektionalen Praktiken des gemeinsamen Tanzschaffens. Im Interview spricht sie über ihre Zusammenarbeit als nicht-behinderte Künstlerin mit Kolleg*innen, die sich als behindert bezeichnen, und warum eine kurze aber gute Liste von Schimpfwörtern in ihrer Wohnung hängt, die eben nicht rassistisch, ableistisch oder sexistisch sind.
Interview: Sabrina Huth
Illustration: Xueh Magrini Troll
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Wie kam es dazu, dass das Thema Diversität im Tanz eine so große Rolle in deinem Leben bekommen hat?
Während meines Studiums habe ich an meinem eigenen Körper erfahren dürfen, dass es ein klares Bild von einem Idealkörper gibt, das es zu erfüllen gilt: die Vorstellung von gut und besser und am besten. Das lust- und freudvolle Erleben am Tanz hingegen, welches für mich schon immer wichtig war und bis heute ist, wurde im Studium immer wieder auf Kosten von Tanztechnik und Können zurückgeschaltet. Daraufhin habe ich begonnen zu hinterfragen, für wen zeitgenössischer Tanz eigentlich Räume bietet. Das war sicher auch ausgelöst durch die absolut fehlende Diversität an unserer Universität, wie auch an anderen europäischen Universitäten. Im Rahmen eines Praktikums hatte ich dann die Möglichkeit bei “Ich bin O.K.” zu unterrichten. Das ist ein Kultur- und Bildungsverein für Menschen mit und ohne Behinderung in Wien. Dort lag die Situation vor, dass die Unterrichtenden und Organisator*innen nicht-behindert waren und die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die an den Tanzkursen teilgenommen haben, behindert waren. Diese Unterrichtssituation hat sich für mich komisch angefühlt, obwohl ich die Arbeit des Vereins sehr schätze. In Österreich leben wir in einer Gesellschaft, in der behinderte Menschen - wenn sie arbeiten - oft in Behindertenwerkstätten arbeiten, welches wiederum ein gesondertes System ist und die Inklusion - wenn man dieses Wort hernehmen möchte - gerade nicht ermöglicht. In diesem Gedanken war “Ich bin O.K.” als Tanzverein gestaltet. Im Laufe der Zeit hat sich dies etwas verändert. Da findet sicher eine Bewusstseinsbildung statt und Tänzer*innen mit Behinderung können mittlerweile eine Art pädagogische Grundausbildung als Tanzassistent*innen erhalten. Aber es ist lange nicht das, was es sein könnte.
Wie nimmst du den Zugang von Menschen mit Behinderung zu professionellen Tanzausbildungen in Österreich und im deutschsprachigen Raum wahr?
Wenn ich Kolleg*innen sprechen höre, die behindert sind, erlebe ich einerseits den Kampf dafür, dass Tanzstudien geöffnet werden. Andererseits gibt es Kolleg*innen, die sagen, sie seien froh, dass sie sich nicht durch dieses System kämpfen mussten, sondern andere Wege gefunden haben um in den professionellen Tanzbereich zu kommen. Das setzt allerdings voraus, dass dieses System so fragwürdig und ableistisch ist. Summa summarum: Wären die Unis anders gestaltet und würden anders mit Körperlichkeit umgehen, könnten Personen, die behindert sind, einfach entscheiden, ob sie diesen oder jenen Weg gehen möchten. So wie wir dies als nicht-behinderte Künstler*innen auch tun können.
Welche strukturellen Veränderungen könnten deiner Meinung nach institutionalisierte Tanzausbildungen weniger fragwürdig oder ableistisch machen?
Es geht grundsätzlich darum, wie das Studium gestaltet ist. Natürlich hängt es stark vom Lehrpersonal ab und wie dies zum Beispiel damit umgeht, wenn Menschen in der Tanzklasse sind, die einen Rollstuhl nutzen. Es hängt aber auch von strukturellen Faktoren ab, wie die Studiendauer oder welche Fächer belegt werden müssen: "Muss jede*r jedes Fach belegen?" Wichtig ist beispielsweise die Frage, wie das Konzept von “crip time” Eingang in elitäre universitäre Institutionen finden kann. Darunter versteht man unterschiedliche Zeitlichkeiten, da unterschiedliche Körper und body-minds Zeit unterschiedlich bearbeiten und nutzen: "Wie geht man in diesem Sinne damit um, dass es permanent Deadlines gibt oder dass man nach vier Jahren mit dem Tanzstudium fertig sein muss?" Das wäre natürlich eine ganz tiefgreifende Umstrukturierung, die meiner Meinung nach längst überfällig ist. Daher kam auch das Interesse, meine Bachelorarbeit über die Bedeutung von Inklusion in Institutionen des zeitgenössischen Tanzes zu schreiben. Ich habe damals untersucht, wie offen Tanzinstitutionen für behinderte Studierende sind und ob es überhaupt Konzepte hin zu mehr Inklusion gibt.
Du hast deine Bachelorarbeit vor circa fünf Jahren geschrieben. Was würdest du aus heutiger Sicht anders bewerten oder formulieren?
Die Arbeit hat noch immer Berechtigung. Aus heutiger Sicht war sie jedoch noch stark geprägt von meinen eigenen internalisierten Ableismen und dem Bild, dass ich als nicht-behinderte Frau
irgendjemanden helfen muss. Ich hab gemerkt, dass mir eine gewisse Sensibilisierung fehlte und dass ich damals noch viel Wissen nicht hatte. Ich kam zum Beispiel schwer an die richtigen Leute ran, da ich wenig Kontakt zur behinderten Tanz Community hatte und nicht wusste, an wen ich mich wenden soll. Diese wichtigen Informationen und Perspektiven fehlen natürlich in der Arbeit.
Wie hat sich seitdem dein Blick auf die Community von behinderten Tänzer*innen und Tanzschaffenden verändert?
Damals habe ich die Community an behinderten Tänzer*innen und Tanzschaffenden viel zu undifferenziert gesehen. Heute bin ich froh andere Einblicke zu haben und mehr von den Diskursen innerhalb der Community mitzubekommen; genauer gesagt innerhalb der Communities, da es sich - wie überall auch - um eine Vielzahl an Communities handelt. Ich wurde mit meiner Bachelorarbeit nach Berlin zu der Konferenz „Tanz Körper Erweiterung“, veranstaltet von tanzfähig und dem Dachverband Tanz Deutschland am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT) eingeladen. Das war ein wichtiger Moment für mich, da sehr viele unterschiedliche Gruppen, Interessen und Interessenvertretungen anwesend waren. Das habe ich so zuvor nicht erlebt. Oft fehlen diese Stimmen ja in künstlerischen Boards oder Jurys und auch in der Wiener Tanzszene. Im Rahmen der Konferenz habe ich “identity politics” dann zum ersten Mal in einem Raum mitbekommen, in dem plötzlich mehr behinderte Personen vertreten waren und “Wording”, bestimmte Ausdrucksweisen, offen kritisiert wurde.
Kannst du hierzu ein Beispiel nennen?
Es war spannend zu sehen wie die restliche Community reagiert, wenn eine Person beispielsweise “handicap” sagt und dass es da ein “Calling-out” gibt; ein Hinweisen darauf, dass bestimmte Worte inakzeptabel und nicht tolerierbar sind. Da hab ich gemerkt: Wow, da ist ein riesengroßer Lernprozess, den ich machen muss und auch möchte!
Bei meinen Recherchen im Kontext von Ableismus und Allyship habe ich zum einen gemerkt, dass es im anglo-amerikanischen Sprachraum viel mehr Literatur und Begrifflichkeiten zum Thema gibt. Zum anderen habe ich - auch bei mir selbst - eine große Unsicherheit gespürt, wie Sprache im Kontext von Behinderung/Nicht-Behinderung verwendet werden soll bzw. kann. Was sind deine Erfahrungen damit?
Uns geht es oft genauso. Ich spreche jetzt im “uns”, weil das, was ich lerne und erleben darf vor allem im Austausch und in den Produktions- und Arbeitsprozessen mit meiner Kollegin Tanja Erhart geschieht. Relativ oft muss man ja Texte von Englisch auf Deutsch übersetzen oder Konzepte zweisprachig schreiben. Wir lieben übrigens diese Mehrsprachigkeit; Unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Körperlichkeiten! Wir haben beispielsweise keine Übersetzung gefunden, die dem Wort “Ally” gut entspricht. Alles, was wir im Deutschen gefunden haben, ist in einem Kriegskontext eingebettet: Verbündete, Alliierte; und dann auch immer mit dem zweiten Weltkrieg und der Eugenik verbunden. Das ist etwas, das ich überhaupt nicht bedienen möchte oder nutzen möchte. Gerade nicht in einem Kontext, in dem ich eigentlich versuche dagegen zu arbeiten. Deswegen sind wir bei “Ally” geblieben.
Gibt es noch weitere Begriffe, die du vermeidest?
Ich sage nicht “Menschen mit besonderen Bedürfnissen”. Auch hab ich früher Begriffe wie “blinder Fleck” verwendet. Das versuch ich jetzt nicht mehr zu sagen; auch nicht “crazy” oder “Das ist ja wahnsinnig cool”. Nicht, dass ich das bei jemanden anderen gleich “canceln” möchte … Mein Freund und ich haben eine Liste mit Schimpfwörtern in unserer Wohnung aufgehängt, die wir verwenden möchten, weil sie eben nicht rassistisch, ableistisch oder sexistisch sind. Die Liste ist kurz aber gut.
Und wie gehst du damit um, wenn dir solche Begriffe in der Zusammenarbeit mit behinderten Kolleg*innen doch mal rausrutschen?
Wenn mir in einer Zusammenarbeit mit einer behinderten Person ein Begriff rausrutscht, von dem ich vielleicht sogar weiß, dass die Person ihn ablehnt, und sich die andere Person davon angegriffen fühlt und dies dankenswerterweise auch sagt, nehme ich diese Kritik an, bitte um Verzeihung und versuche mein Verhalten zu überdenken und zu transformieren; ohne meine Gefühle der Schuld, Scham oder des schlechten Gewissens ins Zentrum zu stellen. Die zentrale Frage ist ja: Was braucht es um sich zu ändern? Das Zentrieren von Schuld und Scham anstatt der Transformation des eigentlichen Problems erlebe ich oft auch in der Zusammenarbeit mit Institutionen, nach Calling-Out Prozessen. Aber es interessiert mich in diesem Zusammenhang nicht, dass diese Schuld im Raum ist, ich mag meinen Fokus auf das positive Veränderungspotential dieser Situation legen. Vielmehr interessiert mich, was der Prozess braucht, damit eine Website zum Beispiel zugänglicher wird.
Gibt es Begriffe, die du im Kontext von Behinderung/Nicht-Behinderung gerne verwendest?
Statt Bedürfnisse benutzen Tanja und ich zum Beispiel das Wort “Erfordernisse” und versuchen zu erklären, was wir damit meinen. In der Kommunikation mit unseren Ko-Produktionspartner*innen und mit Leuten, mit denen wir zusammenarbeiten, versuchen wir diesen Begriff nach und nach einzuführen. Welche Begriffe für wen passen, ist natürlich sehr individuell und keine ultima ratio, sondern ein fortwährender Prozess. Manche bezeichnen sich beispielsweise als Tänzer*in mit Behinderung, andere als behinderte Tänzer*in. Das sind zwei unterschiedliche Konzepte und deren Verwendung kommt auch wieder auf den Sprachraum an. Da ist es wichtig einfach auch mal nachzufragen: Warum benutzt du diese Bezeichnung? Oder warum nicht? Begriffe nicht nur im englischen Sprachraum zu belassen, erscheint mir jedoch wichtig. Gerade weil Zugang ein Thema ist und wenn manche Konzepte nur in einer Sprache existieren, dauert es viel länger bis sie Teil der Wirklichkeit werden. So machen wir uns eigentlich viel Arbeit; die aber auch eine sehr lustvolle Arbeit ist und manchmal bedeutet keine Scheu davor zu haben nach neuen Begriffen zu suchen oder zu sagen: “Ich hab jetzt kein anderes Wort dafür”. Im Rahmen meines Arbeitsstipendiums habe ich mich “Allyship” befasst. In diesem Zusammenhang habe ich einfach oft beschrieben, was ich damit meine, wenn ich dieses Wort benutze.
Was ist denn ein “Ally” für dich?
Für mich ist ein “Ally” eine Person, dem oder der ihre eigenen Privilegien bewusst sind und die oder der ihre Sichtbarkeit oder Machtposition, die er oder sie durch diese Privilegien hat, nutzen möchte um diese aufzubrechen oder herauszufordern.
Würdest du dich selbst als “Ally” bezeichnen?
Ich würde es so sagen, dass ich versuche, “Allyship” zu praktizieren. Und ich finde es natürlich schön, wenn mich die Tanja als “Ally” bezeichnet. Aber sie erkennt auch, dass das für mich etwas prozesshaftes ist, weil sonst habe ich wieder das Gefühl, es sei etwas dass man so pachtet und dass man vielleicht auch schnell abhaken möchte, weil es eine unangenehme Seite hat. Das ist ja nicht wie der Erstplatzierte bei Olympia und dann hast du das. Ich sehe meine Verantwortung ganz klar in dem Bereich. Ich glaube aber auch, dass man im Endeffekt nicht sagen kann, ich bin dein “Ally”. Es ist vielmehr ein Dialog mit mir selbst und mit anderen.
Du hast schon öfter deine Zusammenarbeit mit der Tänzerin und Choreografin Tanja Erhart erwähnt. Wie habt ihr euch denn kennengelernt?
Tanja und ich nahmen beide als Diskutierende an einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Konferenz am HZT in Berlin teil, von der ich vorhin erzählt habe. Dort hörte ich Tanja auf einmal tirolerisch sprechen. Da dachte ich mir: “Was die kommt auch aus Österreich? Und wir kannten uns vorher noch gar nicht?” Das war so ein Moment, wo unsere Herzen geklickt haben. Aus dem heraus sind wir dann in unsere Zusammenarbeit gestartet.
Wie würdest du eure Zusammenarbeit beschreiben?
Bei Tanja und mir gibt es einen Moment, den wir öfter teilen. Ich hab immer gern mit verschiedensten Objekten gearbeitet. Ich finde den Austausch zwischen Körper und Objekt total spannend und auch die Idee, dass Objekte einen eigenen Charakter oder eine eigene Belebtheit haben. Als wir uns kennengelernt haben wollte Tanja näher in die Identität eintauchen, die ihre Krücken haben, und wie diese choreografisch körperlich Bewegung erzeugen können. Bei einer gemeinsamen Residency in der Nähe von London hatten wir kein anderes Objekt als die Krücken zur Verfügung. Für mich sind dies Objekte, für Tanja sind sie jedoch ein “access-tool” und viel mehr. Gleichzeitig sind die Krücken auch ein Symbol der Behinderten Community. Da kamen wir mit ganz unterschiedlichen Ideen hinein. Tanja sagte: “Wir haben jetzt nichts anderes, aber wir interessieren uns für Objekte, nehmen wir doch mal die Krücken.” Daraus ist eine ganze Bewegungspraxis entstanden. Als die Tanzkünstler*in Kate Marsh aus Großbritannien bei einer unserer Proben zuschaute, fragte sie uns: “Warum eigentlich die Krücken? Seid ihr euch überhaupt bewusst, was das bedeutet?” Das war ein Moment, in dem uns wie Schuppen von den Augen gefallen ist, was es bedeuten kann und wie schwierig es ist, wenn eine nicht-behinderte Person mit Krücken performt und in welchen Kontext das gesetzt wird. Gleichzeitig war aber auch diese Freude am Austausch sehr präsent, sowie die Fragen: Wie gehen wir jetzt damit um, damit es nicht zur “appropriation”, Vereinnahmung, wird? Wie positionieren wir uns? Wer entscheidet, ob ich als nicht-behinderte Tänzer*in das machen darf? Ist es Tanja, weil es ihre Krücke ist? Ist es eine andere Instanz?
Wie habt ihr euch letztendlich entschieden?
Im Endeffekt haben wir uns für die Krücken und für dieses Experiment entschieden, in dem auch Lust und Freude eine wichtige Rolle spielen. Das ist wichtig um nicht schon zerknirscht in ein so haariges und herausforderndes Thema einzusteigen. Die Frage, ob ich als nicht-behinderte Tänzer*in mit Krücken performen kann oder nicht, ist für mich ein gutes Beispiel dafür, den Diskurs nicht von Anfang an zu “cutten”, zu unterbinden. Auf meinen mehr oder weniger ernst gemeinten Vorschlag hin
statt den Krücken Besenstiele zu verwenden, meinte Tanja: “Super, dann hat es gleich eine feministische Perspektive: zwei Frauen mit Besenstielen.” Letztendlich hat uns der Input von außen, für den wir sehr dankbar sind, angeregt zu hinterfragen, wie wir Entscheidungen treffen und in welchen Kontext sie mehr Diskurs und Diskussion befeuern, anstatt diesen zu unterbinden. Aber auch: Wie gehen wir miteinander um und wo sehen wir die Verantwortung in dieser Zusammenarbeit?
Worin siehst du denn als nicht-behinderte Tanzkünstler*in deine Verantwortung in der Zusammenarbeit mit Kolleg*innen, die sich als behindert bezeichnen?
Es geht um ein gesamtgesellschaftliches Realisieren von Verantwortung. Gerade beim Ableismus hab ich das Gefühl, er wird so oft negiert weil viele Personen - mich eingeschlossen - lange nicht verstanden haben wie stark es einen selbst beschneidet. Toni Cade Bambara, eine Schwarze Dichterin und Schriftstellerin, hat einmal gesagt: “It is the role of the artist to make the revolution irresistible,” es sei die Aufgabe eines/einer Künstler*in die Revolution unwiderstehlich zu machen. In diesem Sinne scheint es mir wichtig klare Grenzen zu setzen und zu sagen, wenn etwas scheiße ist, oder gar eine Gewalttat. Wenn ich aber versuche Institutionen und andere Menschen mit ins Team zu holen und das Bewusstsein für mehr Teilhabe von behinderten Menschen an Kunst, Kultur und Bildung zu schärfen, dann muss ich vermitteln, dass es eine Zukunft ist, die für uns alle besser ist.
Wie lässt sich diese Verantwortung konkret beim Produzieren von Tanzstücken umsetzen?
Es ist wichtig von Anfang an beim Erstellen von Förderanträgen “access”, Zugang, zu zentrieren. Hierin seh ich meine Mit-Verantwortung als nicht-behinderte Künstlerin. Natürlich bin nicht nur ich verantwortlich, sondern auch die Fördergeber*innen. Projekte, die Zugang zentrieren, müssen auch dann eine Förderung erhalten können, wenn sie ein höheres Budget als andere einreichen. Überhaupt finde ich, dass Fördertöpfe umgestaltet werden sollten. In Großbritannien gibt es zum Beispiel einen extra “access” Budgettopf für die “access needs” der Performer*innen, aber auch die des Publikums. Und dieser Budgettopf ist unabhängig vom künstlerischen Budget. Da lohnt es sich mal über den Ärmelkanal zu schauen! In diesem Sinne geht es auch darum zu fragen, wie gut Zugangsmöglichkeiten für ein behindertes Publikum sind, wenn man um einen Proberaum ansucht oder eingeladen ist, ein Stück zu performen. Das erwarte ich mir vor allem noch mehr von etablierten, gut geförderten zeitgenössischen Choreograf*innen. Und wenn du Stücke entwickelst, in denen behinderte Performer*innen mitmachen, dann musst du als Choreograf*in für Zugang sorgen - sowohl vor als auch hinter der Bühne. Ansonsten ist es eine Art von Ausnutzen. Lässt sich das Theater innerhalb eines Monats nicht komplett umbauen, dann geht es darum zwei Monate später noch einmal nachzufragen oder den Gig abzusagen. Ich denke es wichtig zu fragen, was wir in der Rolle als Künstler*in gesellschaftlich tun und verändern können - im Kontext von Theater und abseits davon.
Wie gehst du/ihr mit unterschiedlichen Rollenverteilungen in der Zusammenarbeit um?
Ich erlebe mich jetzt oft in der Rolle, dass ich künstlerische Projekte am Anfang mitgestalte. Ich weiß, dass im Schreiben von Konzepten auch meine Stärke liegt. Dadurch, dass ich am Anfang diese Arbeit mache, kann es im Team eine Hierarchie erzeugen. Und dann geht es im Arbeitsprozess darum, diese Hierarchie wieder abzubauen. Das ist die große Herausforderung! Wie kann ich meine Stärken im Schreiben und in der Organisation so hineinnehmen, dass sie sich dann nicht permanent ins künstlerische Arbeiten hineinmischen und verstärken; gepaart mit meinen weißen, nicht-behinderten
Privilegien. Da merke ich, dass dies ein Bewusst-Machen bedarf, mit dem ich immer wieder in den Raum gehen muss. Und wo ich mich manchmal auch dafür entschuldigen muss, wenn ich mit dem Duktus Entscheidungen zu treffen in den Probenprozess hineingehe. Gleichzeitig fände ich es auch schade, dies nicht mehr zu tun, da es meine Stärke ist und ich auch meine Verantwortung darin sehe diese Stärke zu nutzen um den Raum des Gemeinsamen zu schaffen.
Sich für mehr Diversität im Tanz und soziale Gerechtigkeit zu engagieren kann mitunter herausfordernd und Kräfte raubend sein. Welche Strategien verwendest du um diese Arbeit nachhaltig zu gestalten?
Was mich inspiriert ist der Ansatz “pleasure activism”, bei dem es viel um “movement”, also Bewegung im Sinne von aktivistischen Bewegungen geht. Er wurde von adrienne maree brown - einer Schwarzen, queeren Frau - mitbegründet. In diesem verhafte ich gerade, wie ich Tanz lebe oder wie ich im Tanz zusammenarbeite. Besonders wichtig scheint mir dabei die Frage, wie Aktivismus “sustainable”, also nachhaltig sein kann; vor allem, da man im Aktivismus mit viel konfrontiert ist, das Schmerz beinhaltet. Der Schmerz wird auch immer da sein. Wir reden immerhin von Unterdrückungserfahrungen. Die Frage ist jedoch: was kann diese Arbeit nachhaltig machen? Und welche “tools”, Werkzeuge, braucht es dafür? Und da sind die Lust, die Freude und der “pleasure”, das Vergnügen, auf alle erdenklichen Arten und Weisen das, was es “erträglich” macht wenn es mal schwierig ist oder man wütend ist. Gerade auch die Wut rauszulassen und als Katalysator zu verwenden um weiterzumachen ist extrem wichtig, sobald man “Allyship” praktiziert. Wie kann man sich nähren aus der Bewegung und dem Input und weiter dranbleiben? Wir in unseren Identitäten als nicht-behinderte Tänzer*innen haben ja jederzeit die Möglichkeit - und das ist unser Privileg - aus der Auseinandersetzung mit Ableismus wieder rauszugehen. Daher macht es für mich auch einen Unterschied, ob ich es nur als etwas berufliches sehe oder als Teil meines Lebens, als Teil meiner Freund*innenschaften, als Teil meiner Beziehung. Es ist nichts, was ich extra von mir sehe oder das separat von mir passiert. Und dann gibts halt keinen Weg zurück mehr!
Welches Wort fällt dir spontan zu folgenden Sätzen ein?
Diversität im Tanz bedeutet für mich … Mehr
Allyship bedeutet für mich … Interdependenz
Zusammenarbeit bedeutet für mich … Neugierde
Barrierefreiheit bedeutet für mich … Mehr als nur Rampen
Behinderung bedeutet für mich … Gesellschaftliche Verantwortung
Nicht-Behinderung bedeutet für mich … Das Wahrnehmen von Privilegien